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Natascha Kampusch: 3096 Tage

Sie war das Opfer eines der spektakulärsten Entführungsfälle der Kriminalgeschichte: Im Alter von 10 Jahren wurde Natascha Kampusch auf dem Schulweg von einem fremden Mann entführt und von diesem in ein eigens dafür eingerichtetes Kellerverlies gesperrt. Erst nach über 8 Jahren gelang der jungen Frau die Flucht, der Täter Wolfgang Priklopil wählte am gleichen Tag den Freitod. Vier Jahre sind vergangen, seit Natascha Kampusch die körperliche Freiheit wiedererlangte. Doch wie es in ihrem Inneren bis heute aussieht, das kann wohl kein Aussenstehender wirklich erfassen. In einem Buch versucht die mittlerweile 22-jährige nun, die ganze Geschichte ihrer 3096 Tage währenden Gefangenschaft für interessierte Mitmenschen greifbar zu machen - und vielleicht auch für sich persönlich so noch ein Stück Freiheit hinzuzugewinnen.

Es wird vielen ähnlich ergangen sein wie mir, als die Meldungen über eine junge Frau durch die Medien gingen, die augenscheinlich 8 Jahre in den Händen eines ominösen Kerls gefangen war, und sich nun auf wundersame Weise befreien konnte. Die Medien überschlugen sich mit Fakten und Spekulationen gleichermaßen, jeder wollte mit der jungen Frau (oder auch über sie) sprechen, viele zeigten Anteilnahme oder waren auch einfach sensationsgierig oder neugierig. Und wie es mit solchen Ereignissen ist, Unwahrheiten mischen sich mit der Realität, das Opfer wird stellenweise einfach überrumpelt und jeder meint, sich seine eigene Geschichte daraus drehen zu müssen, oftmals fernab dessen, was die Geschädigte wirklich erlebt hat. Das Ganze geht sogar soweit, dass man Frau Kampusch beschimpfte und ihr allerlei unschöne Dinge vorwarf - Einfach weil sie sich und ihre Geschichte nicht in vorgefertigte Schubladen und Schemata pressen ließ.

Vier Jahre nach ihrer Flucht sah sich Natascha nun bereit, die Geschichte in einem Buch niederzuschreiben, ihre Erfahrungen auszuformulieren und denjenigen Lesern zugänglich zu machen, die echtes Interesse mitbringen. Auf nicht ganz 300 Seiten erzählt die junge Dame von ihrer Kindheit, dem Tag der Entführung, den acht Jahren voller Angst und Schmerz sowie von ihrer Flucht und dem anschliessenden Rummel um ihre Person.

Grundsätzlich ist das alles natürlich sehr interessant, allerdings muss ich gleich sagen, dass 3096 Tage für mich erstmal eine Enttäuschung war. Ich hab seinerzeit die Berichterstattung verfolgt, allerdings nicht bis ins letzte Detail, und ich habe sicherlich nicht jede Talkshow und jedes Interview mitbekommen - Dennoch birgt das Buch nahezu keine Informationen, die mir bis dato unbekannt waren. Lediglich ein paar Gerüchte werden ins richtige Licht gerückt, oder eben einzelne konkrete Begebenheiten aus der Zeit der Gefangenschaft erzählt. Gerade von letzteren hätte man sich mehr gewünscht. Stattdessen aber bleibt Natascha Kampusch in ihrem Buch bemerkenswert an der Oberfläche. Hinzu kommt, dass sie sich oft wiederholt und ständig Entschuldigungen einflechtet, warum sie in gewissen Situationen nicht schon früher geflohen ist. Das größte Problem ist aber in meinen Augen, dass man deutlich spürt, die Frau ist durch zahlreiche Therapien, Beraterhände und ähnliche Hilfsmaßnahmen gegangen. Man liest nicht die Erlebnisse und Empfindungen eines Opfers, vielmehr hat man all zu oft das Gefühl, dass hier alles psychologisch gedeutet und zerlegt wird. Bei allem Respekt für Frau Kampusch, und so gut es ist, dass ihr Hilfe anheim kam - ein Großteil des Buches hätte so auch von einem außenstehenden Therapeuten geschrieben worden sein können. Sicherlich war es eine extreme Situation die hier beschrieben wird, aber bei der Lektüre von 3096 Tage wird der Leser nicht wirklich involviert, wodurch die Geschichte als solche eher unwirklich erscheint.

Vielleicht ist das auch Absicht, vermutlich sogar. Man spürt, dass die Autorin Abstand gewinnen will und Angst davor hat, dass jemand sich zu sehr in ihrer Welt verlieren könnte, in ihren Erlebnissen, aber auch in ihrer (für Außenstehene kaum nachvollziehbaren) Beziehung zum Täter. Die inneren Konflikte sind noch längst nicht gelöst, und ihre Umwelt macht es Natascha Kampusch sicherlich nicht einfacher, mit dem Erlebten umzugehen. Und genau diese Erfahrungen mit dem Umfeld scheinen es auch zu sein, welche dieses Buch so "blockiert" wirken lassen, denn an manchen Stellen blitzt auf, wie es in dieser viel geprüften Frau wirklich aussieht: Wenn sie sich vehement dagegen wehrt, über das "Stockholm-Syndrom" abgeurteilt zu werden, wenn sie das schwarz-weisse Gesellschaftsbild verbal an die Wand nagelt und den Menschen da draußen einen Spiegel vorhält, dann kauft man ihr das ab und sieht unverfälschte Intelligenz und Emotion zugleich.

Alles in allem ist 3096 Tage sicherlich kein schlechtes Buch, vor allem wenn man einen groben Überblick über die Ereignisse und Erlebnisse von Natascha Kampusch während ihrer langen Entführung bekommen will, und auch um ungefähr nachzuvollziehen was sie erlitten hat und weswegen eine frühere Flucht vor allem mental unmöglich war. Mich persönlich allerdings hat das Buch aufgrund seiner artifiziellen und oberflächlichen Art enttäuscht. Ich hätte mir mehr wirkliche Einblicke und mir Direktheit gewünscht, mehr unverfälschte Psyche anstelle von psychologischem Gewäsch.

Veröffentlicht: 08. September 2010
Verlag: List
Umfang: 288 Seiten
Preis: 19,95 Euro (Hardcover mit Umschlag)
ISBN: 978-3471350409

Cover

01/05/11 by Otti

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